Virtual Reality – eine Recherchereise in die virtuelle Realität

Mit der HMD-Brille in andere Welten aufbrechen.

Ein neuer Trend auf dem Spielemarkt sind VR-Spiele, Games in der virtuellen Realität. Das Prinzip: Wer mit HMD-Brille (Head-Mounted Display wörtlich „am Kopf befestigte Anzeige“) und spezieller Technik spielt, steht inmitten des Geschehens – und wird zum Protagonisten des Spiels.  Um die  Konsequenzen für den Jugendschutz besser einschätzen zu können, hat die Landesstelle Jugendschutz Niedersachsen (LJS) im Frühjahr 2017 eine Recherchereise zur Unterhaltungssoftware-Selbstkontrolle (USK) nach Berlin organisiert. Sechs Eltern-Medien-Trainer und ein LJS-Team wollten mit den Spiele-Experten vor Ort über die Wirkungen von VR-Spielen diskutieren – und selbst testen, was man dabei erlebt.

Die LJS-Besucher diskutieren mit Uwe Engelhard und Marek Brunner, USK

Die Unterhaltungssoftware-Selbstkontrolle (USK) prüft Computerspiele auf ihre Alterseignung und vergibt entsprechende Freigabekennzeichen, analog zu den Kennzeichen der FSK für Filme.
Um einschätzen zu können, was nicht nur Kinder an der virtuellen Gaming-Welt fasziniert, haben  die Pädagogen aus Niedersachsen in Berlin Zombies gejagt, blaue Männchen über Steine hüpfen lassen, die Städte der Welt erkundet und sich ins Weltall begeben. Ein Selbsterfahrungstrip mit Wow-Effekt – wer mit einer HMD-Brille spielt, taucht vollständig ein in die virtuelle Welt und vergisst schnell seine Alltagsumgebung. Schwindel, Irritationen und ein Verlust des Raumgefühls inklusive  – einer der  Selbsttester brachte es auf den Punkt:  „Man wird verhaltensauffällig“.

Der Markt ist noch überschaubar

Wie Marek Brunner, Leiter des Testbereiches bei der USK,  festhielt, ist es auf dem Markt für VR-Spiele, die mit 3D-Brille und speziellen Grafikkarten auf High-End-PCs gespielt werden, bisher noch verhältnismäßig ruhig.  So sind weltweit bisher 2 Millionen VR-Sets auf dem Markt, der Marktführer ist Playstation VR, gefolgt von den Anbietern HTC Vive und Oculus. Allerdings sind die Zukunftsprognosen der Branche ausgesprochen optimistisch: Bis 2020 sollen mehr als 76 Millionen Headsets verkauft werden. Die Käufer sind in der Regel leidenschaftliche Gamer – Spielefans, die bereit sind, entsprechend in die technische Ausstattung zu investieren.  Während die meisten Spiele sich eher im Bereich Horror  bewegen und erst ab 16 bzw. 18 Jahren freigegeben sind, ist das Angebot für Kinder im Vergleich noch überschaubar. Es umfasst Abenteuer-Spiele mit Freigaben von 0 bis 6 Jahren und Simulationen von Flügen, Panzerfahrten oder Rennen im 12er-Bereich. Die 3D-Versionen von Erfolgsspielen wie  Resident Evil  wurden von der USK ab 18 Jahren freigegeben.

Wer sich einmal mit der richtigen Technik versorgt hat und mit großen Erwartungen  in die virtuelle Spielewelt starten will,  könnte enttäuscht sein: Längst nicht alle Spiele erfüllen die visuellen Standards, die Bildschirm- und Konsolen-Gamer gewohnt sind. Aufgrund des hohen Programmieraufwandes sind Grafiken oft noch unscharf oder der Spielaufbau unbefriedigend. Auch die Möglichkeit, in Gruppen interaktiv zu spielen, gibt es in der VR-Spielwelt bisher nicht.  So folgt auf die erste Begeisterung bei neuen Spielen schnell Ernüchterung. Entsprechend werden die Zeiten, die Gamer in der virtuellen Umgebung verbringen, immer kürzer:  Durchschnittlich wird in VR-Games nicht länger als 20 bis 30 Minuten gespielt. „Die Spieldynamik fehlt oft noch – in Verbindung mit der schlechten Grafik verflacht das Erlebnis schnell und das Spiel wird, HMD-Brille hin oder her, langweilig“, so Brunner.

„Mit der Rechtecktaste kannst Du zuhauen!“

Von den Medienpädagogen aus Niedersachsen getestet werden konnte unter anderem das Spiel IrreVRsible, beim dem es darum geht, angreifende Zombies zu bekämpfen. Der Spieler steht dafür mit HMD-Brille und Hand-Held in der Mitte des Raumes und eröffnet das Spiel mit einer Handbewegung. Angesichts von Zombies im Angriffsmodus tritt der immersive Effekt, das Eintauchen in die Spielewelt, schnell ein und die räumliche Orientierung verlagert sich komplett auf die 3D-Umgebung. Umstehende sind gut beraten, den Kämpfenden aus dem Weg zu gehen.  Spielen in der virtuellen Welt kann viel Körpereinsatz erfordern, und die Spielarena sollte mindestens 3 qm groß sein.
Hat man sich einmal umgeschaut und das Spiel eröffnet, kommen Angreifer  in schneller Folge von vorne, hinten und von der Seite, und wer die Rechteck-Taste auf seinem Controller verfehlt, verliert sein Leben schneller als gedacht. Somit ist höchste Konzentration erforderlich, um sich  zu ducken und per Controller die Waffen zu steuern. So lautete denn auch das einhellige Fazit der Eltern-Medien-Trainer: „Man darf nicht rausgerissen werden.“

Nahkampf gegen Zombies – drei Spielende im Selbstversuch mit der Unterstützung durch Marek Brunner, USK

Durchhalten lohnt sich: Wer lange spielt, entwickelt immer mehr Spielkompetenzen – so genannte Skills. Eva Hanel, bei der LJS zuständig für den Bereich Medien und selbst USK-Prüferin: „Gamer möchten natürlich ihre Skills verbessern – hierzu zählt die räumliche Orientierung in der virtuellen Welt und die Reaktionsfähigkeit, also das schnelle Zücken von Waffen oder das Ausweichen.“  Das Fazit: Der Drang zur Selbstoptimierung beim 3-D-Spiel kann dazu verleiten, länger zu spielen, als man sich ürsprünglich vorgenommen hat. Frustrationserfahrungen führen allerdings auch schnell dazu,  die HMD-Brille wieder abzusetzen: Nicht jeder möchte mehrfach in einem roten Nebel untergehen, nur weil der Griff zum Schwert wieder danebenging.  Und weil das Kämpfen und Navigieren in der virtuellen Welt bewegungsintensiv sein kann und hohe Konzentration erfordert, war mancher Spieler nach dem Kampfeinsatz so erschöpft, als hätte er tatsächlich zehn Zombies bezwungen – mit vier Waffen in zwei schweißnassen Händen jonglierend.

Implikationen für den Jugendschutz

VR Titel ziehen Spielende  unmittelbar ins Spielgeschehen hinein und werden deshalb von den USK-Jugendschutzsachverständigen als wirkmächtiger eingestuft als 2D-Bildschirmspiele. Allerdings ist die vollkommene Immersion (das Verschmelzen mit der Spielwelt) bisher noch Zukunftsmusik. Abzusehen ist trotzdem, dass die Verbesserung  der Grafiken und die Weiterentwicklung der Spielmöglichkeiten auch zu einer größeren Attraktion führen wird  – und längeren Spielzeiten.  Damit verbunden konstatiert Uwe Engelhard, Ständiger Vertreter der Obersten Landesjugendbehörden bei der USK,  eine direkte Verbindung zwischen grafischer Umsetzung und Wirkungsrelevanz:  „Wenn die Immersion, die Realitätsillusion, stärker wird, steigt die Gefahr einer möglichen Übertragung auf die Alltagswelt.“ Insofern ist mit der zunehmenden Verbesserung der Spielangebote auch eine höhere Aufmerksamkeit für die Zeit, die Kinder in der virtuellen Welt verbringen, wichtig.  Nur über Freigaben, so der Experte, lässt sich hier wenig ausrichten – was zählt, ist ein erzieherischer Jugendmedienschutz.  Allerdings, auch dies wurde im Rahmen des USK-Besuches deutlich, sind die Altersfreigaben eine wichtige und ernst zu nehmende Orientierungshilfe für Eltern – und auch zur Einordnung der Spiele durch die Jugendlichen selbst So werden Spiele in der virtuellen Welt oft mit höheren Freigaben versehen als 2D-Bildschirmspiele.  Weil Bedrohungen in der virtuellen Welt realer wirken, sind mit dem Immersionseffekt auch größere Ängstigungsrisiken verbunden. Entsprechend erhielt das Spiel Ocean Descent, in normalen Bildschirmversionen ab 12 Jahren freigegeben, als 3D-Versionen eine Freigabe erst ab 16 Jahren − um mögliche Alltagsängste zu verhindern: „12-Jährige sind noch nicht stabil genug, um sich von der virtuellen Simulation ausreichend lösen zu können“, bringt es Eva Hanel auf den Punkt.

Wie sich in der abschließenden Diskussion zeigte,  ist es wichtig, dass auch Eltern verstehen, was ihre Kinder an Computerspielen reizt – und warum eine Spielunterbrechung oft  so schwer ist. Denn Grenzen setzt man am besten im Dialog und nicht über die Köpfe der jungen Spieler hinweg.