Permanent Präsent – Sexuelle Übergriffe unter Jugendlichen, 5.12.2019

(Hannover, 5. Dezember 2019) Anzügliche Kommentare, Grapschen, heimliche Fotos von intimen Situationen und sexuelle Belästigungen unter Gleichaltrigen – für viele Jugendliche sind solche Grenzverletzungen alltäglich. Aktuelle Studien bestätigen, dass sie permanent mit dem Thema konfrontiert sind: offline und online, Mädchen häufiger als Jungen. Sexuelle Übergriffe werden zumeist in vertrauter Umgebung, in der Clique, in der Schule, im Verein oder zuhause durch Bekannte, Freunde oder Beziehungspartnern verübt. Jugendliche reagieren darauf verletzt, verunsichert und zumeist sprachlos. In diesen Situationen benötigen sie einfühlsame und ansprechbare Erwachsene. Darin waren sich mehr als 140 Fachkräfte, Expert*innen und Gäste einig, die auf Einladung der Landesstelle Jugendschutz Niedersachsen (LJS) am Donnerstag die Jahrestagung „Permanent Präsent“ in Hannover besucht haben. Dabei wurden Risikofaktoren für sexuelle Gewalt unter Jugendlichen beleuchtet und Ansatzpunkte für Vorbeugung und Hilfe präsentiert.

LJS Jahrestagung 2019

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„Wir mussten verstehen lernen, dass sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche am häufigsten da passiert, wo sie eigentlich am besten geschützt sein sollten: in Familien, in Schulen, in Jugendhilfeeinrichtungen, in der Kirche. Alle Einrichtungen, in denen Kinder und Jugendliche betreut werden, sind vor diesem Hintergrund gefordert, Prävention und Schutz in ihrer Arbeit so zu verankern, dass Machtmissbrauch und sexuelle Übergriffe nach Möglichkeit verhindert werden, dass Kinder und Jugendliche verlässliche Beschwerdewege nutzen können, wenn sie sich verunsichert oder bedroht fühlen“, sagte der Vorsitzende der Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege in Niedersachsen e.V., Diözesan-Caritasdirektor Franz Loth in seinem Grußwort. „Zahlreiche Fälle von Missbrauch und sexueller Gewalt gegen Kinder sind allein in diesem Jahr ans Licht gekommen. Daran wird deutlich, wie wichtig es ist, bei dem Thema wach und aufmerksam zu bleiben. Für die betroffenen Kinder müssen wir Hilfe und Unterstützung bereitstellen“, betonte Heiger Scholz, Staatssekretär im Niedersächsischen Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung.

Ohne Scham über Sexualität, Gefühle und Unsicherheiten sprechen
„Aus unserer Sicht geht es darum, Jugendlichen zu vermitteln, dass sie ein Recht auf Schutz und Unterstützung haben und gleichzeitig den Rechten anderer mit Respekt begegnen müssen. Fachkräfte in Schulen und Einrichtungen der Jugendhilfe, aber auch Eltern und weitere Bezugspersonen sind gefordert, ein vertrauensvolles Klima zu schaffen, damit sich Kinder und Jugendliche ohne Scham an sie wenden und Orientierung finden können“, sagte LJS-Leiterin Imke Schmieta. Dafür bietet die Landesstelle u.a. Schulungen an. Andrea Buskotte, LJS-Referentin für Gewaltprävention, berichtete über das jetzt ausgelaufene Projekt „Nice to meet you“, ein Informations- und Gesprächsangebot für geflüchtete Jungen in Jugendhilfeeinrichtungen und Schulen über Rechte und Respekt: „Mit diesem Projekt haben wir Methoden für die Prävention und Reflexion erarbeitet. Die LJS wird auch künftig einen Schwerpunkt setzen auf entsprechende Information und Fortbildungen für Fachkräfte in Wohngruppen, für die Schulsozialarbeit und Lehrkräfte“, kündigte Buskotte an.

Hinschauen und Handeln statt Wegducken
Die Hauptreferentin der Fachtagung, Prof. Dr. Sabine Maschke von der Philipps Universität Marburg, stellte die vom hessischen Kultusministerium geförderte Studie „Speak!“ vor. Dazu wurden von 2016 bis 2018 knapp 3.000 14- bis 16-Jährige an allen Schulformen befragt. Die Ergebnisse sind erschreckend: Fast die Hälfte hat Erfahrungen mit nicht-körperlicher sexualisierter Gewalt. Knapp ein Viertel, vor allem Mädchen, hat körperliche sexuelle Gewalt bereits erlebt.

Ab dem elften/zwölften Lebensjahr steigen die Erfahrungen mit sexueller Gewalt sprunghaft an. Dabei sind die fünf häufigsten Risikoorte Schule, Internet, der öffentliche Raum, Partys in einer anderen Wohnung oder Zuhause. Nach Angaben von Betroffenen geht die sexuelle Gewalt zu knapp 75 Prozent von 12- bis 18-Jährigen aus. „Weil diese Erfahrungen so alltäglich sind, gehen viele betroffene Jugendliche davon aus, das sei ‚normal‘ und sie dürften über ihre Verletzung nicht sprechen“, berichtete die Sozial- und Erziehungswissenschaftlerin. Viele wollten auch nicht „petzen“ und suchten deshalb nur selten Hilfe bei Erwachsenen. Eher vertrauten sie sich anderen Jugendlichen an, was zwar im ersten Moment entlasten, für die ins Vertrauen Gezogenen aber zu einer seelischen Belastung werden könne. „Es fehlt an erwachsenen Ansprechpersonen, die Jugendliche als kompetent wahrnehmen und denen sie vertrauen können. Als Erwachsene müssen wir sehr viel stärker Verantwortung übernehmen. Die bittere Realität zu verleugnen bringt uns nicht weiter. Es gilt vielmehr: Hinschauen und Handeln statt Wegducken.“ Gewaltprävention an Schulen müsse darauf zielen, eine achtsame, präventive Haltung und eine schützende Umgebung zu fördern, fordert Mascke.

LJS Jahrestagung 2019, Dr. Tanja Rusack, Uni Hildesheim

Dr. Tanja Rusack, Uni Hildesheim

Mehr Sensibilität und Transparenz in der pädagogischen Praxis
Wie werden junge Menschen von Gewalt in ihren ersten Paarbeziehungen geprägt? Zu diesem Themenkomplex forscht Dr. Tanja Rusack, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozial- und Organisationspädagogik der Stiftung Universität Hildesheim: „Unsere Interviews mit Jugendlichen zeigen, dass es auch in Paarbeziehungen zu Gewalt und sexuellen Übergriffen kommt. Es ist ein Problem, dass viele Jugendliche in solchen Situationen oft keine Chance gesehen haben, sich dann jemanden anzuvertrauen. Abhängigkeit, Scham, Unsicherheit spielen dabei eine Rolle.“ Es bedürfe einer größeren Sensibilität und Transparenz der Themen Sexualität und sexualisierter Gewalt unter Jugendlichen in der pädagogischen Praxis. Gemeinsam mit Jugendlichen müssten diese Themen bearbeitet und besprochen werden. Dann könnten Verfahren entwickelt werden, die bei den Perspektiven der Jugendlichen ansetzen und ihre höchstpersönlichen Rechte stärken und schützen. Schutzkonzepte und -maßnahmen müssten bei den Interessen sowie Positionierungen von Jugendlichen zu Sexualität und Gewalt ansetzen. Im Rahmen der Förderrichtlinien des Bundesbildungsministeriums „Forschung zu sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in pädagogischen Kontexten“ hat die Universität Hildesheim Forschungsprojekte umgesetzt, die aus einer Adressat*innenperspektive die Frage stellen, wie bei der „Peer Violence“ und im Umgang mit Sexualität Grenzen für Jugendliche verlaufen und welche Aushandlungen dabei durchlaufen werden.

Soziale Medien erschweren die Gewaltprävention
Die Entwicklung von Handlungsempfehlungen für die pädagogische Praxis zum fachlichen Umgang mit sexualisierter Gewalt unter digitalem Medieneinsatz – darauf ist Prof. Dr. Frederic Vobbe, Lehrstuhl für Soziale Arbeit an der Fakultät für Sozial- und Rechtswissenschaften der SRH Hochschule Heidelberg, spezialisiert. In Hannover stellte er sein Forschungsprojekt „Human“ vor. „Der Umgang mit sexualisierten Grenzverletzungen im Kontext digitaler Mediennutzung ist eine aktuelle Herausforderung. Fachliche Dilemmata der Gewaltprävention und der Krisenintervention werden durch den Einsatz sozialer Medien verstärkt. Bisher gibt es in der Beratungspraxis z.B. keinen Konsens für den Umgang mit der begründeten Angst betroffener Jugendlicher, dass Nacktbilder oder Missbrauchsabbildungen mit ihnen existieren bzw. wiederauftauchen.“ Standards professioneller Hilfen müssten daher kritisch hinterfragt und überdacht werden, fordert Vobbe.

LJS Jahrestagung 2019

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Bildmaterial zur honorarfreien, anlassbezogenen Verwertung (Fotos: LJS) und Pressetexte finden Sie in dieser Drobbox: https://www.dropbox.com/sh/wsf227j6jva6ww5/AABs4z9XbEaK6srFgoXe-C-ya?dl=0

Mehr Information: https://www.jugendschutz-niedersachsen.de/gewalt/


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