Bericht zum Seminar „Ignorieren hilft nicht. Funktionen und Folgen digitaler Gewalt“

Das Internet hat die Möglichkeiten, Aggressionen freien Lauf zu lassen, erheblich erweitert. Cyber-Mobbing, Shitstorms und Hasskommentare – fast scheint es, dass normale Standards für das Miteinander in der Online-Kommunikation außer Kraft gesetzt sind. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer (aus Jugendarbeit und Jugendsozialarbeit, Schule und Beratungseinrichtungen) berichteten beim Einstieg in das Seminar, dass unterschiedliche Formen digitaler Gewalt für viele Jugendliche allgegenwärtig sind. Die Fachkräfte beobachten beispielsweise, dass es manchen Jugendlichen schwer fällt, sich abzugrenzen, wenn sie mit unangenehmen und belastenden Inhalten konfrontiert sind. Sie machen sich Sorgen, dass Jugendlichen das Gespür dafür verloren geht, wie man unter Stress und in Konflikten angemessen kommunizieren kann. Und sie sehen das Problem, dass Kinder und Jugendliche vielfach mit Gewalt im Netz und digitalen Übergriffen konfrontiert sind und kaum Kapazitäten haben, diese Phänomene einzuordnen und damit umzugehen.

Die Referentin des Seminars, Dorothee Scholz (Psychologin und Psychotherapeutin), vermittelte in einem ersten Input die Dynamiken, die auf der Täterseite bei der Verbreitung von Hasskommentaren und anderen Formen von Online-Übergriffen wirken: Psychische Grundbedürfnisse wie eine sichere Identität und soziale Zugehörigkeit sind bei Jugendlichen vielfach noch nicht stabil. Ihre Lebensphase ist eine Zeit voller Verunsicherung. Empathiefähigkeit und die Fähigkeit zur Emotionsregulation sind noch nicht voll ausgeprägt. Für verunsicherte Jugendliche können übergriffiges Verhalten oder gewalttätige Äußerungen zumindest kurzfristig eine stabilisierende Funktion haben, indem sie das Selbstwert- oder Kontrollgefühl steigern. Als Ansatzpunkte für die „Täter“-Prävention diskutierten die Seminarteilnehmerinnen und -teilnehmer an dieser Stelle Empathie-Trainings und die Vermittlung von sozialen Regeln. Im Mittelpunkt stand dabei die Frage, wie diese Regeln in die Online-Kommunikation transferiert werden können. Dabei wurde auch angesprochen, dass soziale Regeln zwar nicht jeden Übergriff verhindern, aber einen wesentlichen Bezugspunkt für die Bearbeitung von Gewaltsituationen darstellen.

Zweiter Schwerpunkt des Seminars war die Situation der Betroffenen. Jugendliche sind als intensive Nutzer sowohl diejenigen, an die Drohungen und Verunglimpfungen direkt adressiert werden als auch diejenigen, die solche Attacken als Teil einer Gruppe oder in einem Forum mitlesen. Die Referentin wies in diesem Kontext darauf hin, dass vor allem unmoderierte Foren ein hohes Risiko bergen, dass Mitglieder dort aggressiv entgleisen und dass Betroffene von Online-Gewalt ebenso wie andere Gewaltopfer massiv unter den Folgen leiden können.

Am Beispiel von Hate Speech erläuterte Frau Scholz, dass „Hater“ und ihre Kommentare in der Regel verzerrt wahrgenommen werden, weil die große Mehrheit der Nutzer sich nicht sichtbar von solchen Äußerungen abgrenzt und dagegen positioniert. Die Teilnehmenden diskutierten vor diesem Hintergrund die Möglichkeiten, Jugendliche mit diesen Mechanismen vertraut zu machen und zur „Gegenrede“ zu motivieren, ohne sie damit zu überfordern. Für direkt Betroffene kann es nach den Erfahrungen der Referentin eine Entlastung sein zu verstehen, dass Hate Speech keine Interaktion im eigentlichen Sinn, sondern eine Projektion ist. Hasskommentare zu verfassen, hat vor allem die Funktion, Ängste und Unsicherheiten zu verarbeiten. Für die Angehörigen diskriminierter Gruppen, die darin angesprochen sind, ist deswegen die Botschaft bzw. Einsicht wichtig, dass solche Angriffe nichts mit ihnen als Person zu tun haben.

Insgesamt wurde im Austausch über Präventionsstrategien mit Jugendlichen und Unterstützungsmöglichkeiten erkennbar, dass zentrale Aspekte der Offline-Gewaltprävention auch mit Blick auf Online-Phänomene gelten: die nachhaltige Etablierung sozialer Normen und gewaltfreier Konfliktlösungen und die konsequente Vermeidung von Victim-blaming. Als Leitlinien für den Umgang mit Hate Speech formulierte Dorothee Scholz abschließend drei „Don’ts“:

  • nicht zurückhalten
  • nicht schweigen
  • nicht laufen lassen

… und einen Rat für die konkrete Präventionsarbeit mit Jugendlichen: an praktischen Beispielen üben, wie man knapp und deutlich auf Hasskommentare reagieren kann.

Andrea Buskotte, LJS