Jahrestagung: Kein Alkohol ist auch keine Lösung, 6.12.2017

Jahrestagung der Landesstelle Jugendschutz LJS zur Alkoholprävention

Kein Alkohol ist auch keine Lösung

(Hannover, 6. Dezember 2017) Über zeitgemäße Strategien der Alkoholprävention für Kinder und Jugendliche haben sich mehr als 100 niedersächsische Fachkräfte, die in der Jugend- und Schulsozialarbeit, der Jugend- und Suchthilfe, im kommunalen Jugendschutz, in Beratungsstellen oder bei der Polizei tätig sind, am Nikolaustag in Hannover mit Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Praxis auseinandergesetzt. Die Landesstelle Jugendschutz Niedersachsen (LJS) hatte zu ihrer traditionellen Jahrestagung unter dem diesjährigen Titel „Kein Alkohol ist auch keine Lösung – Grenzen akzeptierender Prävention“ eingeladen. Dabei zeigte sich, dass die in der Suchthilfe diskutierte Forderung, die Altersgrenze für die Abgabe von alkoholhaltigen Getränken einheitlich auf 18 Jahre anzuheben, sehr umstritten ist.

„Jugend und Alkohol“ wird in der Öffentlichkeit zumeist mit „Komasaufen“ oder dem „Vorglühen“ durch hochprozentige Getränke assoziiert. In der vergangenen Woche meldete eine Krankenkasse, dass im vergangenen Jahr zwei Prozent mehr Kinder und Jugendliche als im Vorjahr mit einer Alkoholvergiftung in niedersächsischen Kliniken behandelt wurden. Besonders gravierend sei der Anstieg bei Jungen im Alter von 10 bis 15 Jahren. Experten gehen davon aus, dass zwei Drittel der in Deutschland lebenden 12- bis 17-Jährigen bereits Erfahrungen mit Alkohol haben und jede/r vierte der 16- bis 17-Jährigen regelmäßig mindestens einmal pro Woche trinkt. Diese Zahlen bilden die Lebenswelten junger Menschen aber nur ungenügend ab.

Entwicklungsaufgabe „Alkoholmündigkeit“
In Gesellschaften, in denen Alkohol als beliebteste und akzeptierte Droge gilt, müssten sich Jugendliche zwangsläufig damit auseinandersetzen. Dies gehöre zu den wesentlichen Entwicklungsaufgaben, vor denen junge Menschen in modernen Gesellschaften stünden, sagte Prof. Dr. Gundula Barsch, die über „Drogen und Soziale Arbeit“ an der Hochschule Merseburg lehrt und forscht. Die Fixierung auf die konsumierte Substanz helfe für einen sachgerechten Umgang mit jugendlichem Trinken nicht weiter. Stattdessen seien „weit tiefere Einblicke in die Trinksitten unter Jugendlichen“ notwendig. Alternativ zu Verboten und Kontrollen fordert die Soziologin ein gezieltes pädagogisches Wirken und Üben, um den Jugendlichen „die Chance für die Entwicklung von Alkoholmündigkeit“ einzuräumen.

Für Dr. Sara Landolt, die als Sozialgeographin an der Universität Zürich lehrt und forscht, verdeckt der Blick auf „Vermeiden oder Vermindern“, dass viele Jugendliche einen kompetenten Umgang mit Alkohol haben und entweder gar nicht oder maßvoll konsumieren. Dies werde oft ebenso vergessen wie die vielen und unterschiedlichen Bedeutungen, die Alkohol für Jugendliche haben könne. Auf der Grundlage von verschiedenen Forschungsprojekten in der Schweiz berichtete Landolt darüber, dass mit dem Konsum, aber auch im Sprechen darüber und beim Wiedererzählen von gemeinsam erlebten Alkohol- und Ausgeherlebnissen Zugehörigkeiten hergestellt und Abgrenzungen zwischen Gruppen vorgenommen werden: „Jugendliche positionieren sich dabei und werden zugleich positioniert.“ Es gehe um Freundschaft und um Spaß, aber auch um Kontrolle und Kontrollverlust, um Verletzlichkeit und Unsicherheiten.

Junge Flüchtlinge konsumieren anders
Dass der Konsum von Alkohol und Cannabis auch innerhalb der Gruppe minderjähriger Flüchtlinge sehr unterschiedlich ausgeprägt sein kann, berichtete Siegfried Gift. Der Diplom-Sozialpädagoge und Fachtherapeut für Psychotherapie entwickelt für den Münchener Verein „Condrobs“, der etwa 330 minderjährige geflüchtete Menschen betreut, suchtspezifische Angebote. Nach seinen Erfahrungen konsumiert knapp ein Drittel der jugendlichen Flüchtlinge anfangs stark Alkohol und/oder Cannabis. Je nach kulturellem und religiösem Hintergrund sei dies sehr verschieden. In den vergangenen Jahren habe sich gezeigt, dass sich der Alkohol- und Cannabiskonsum mit zunehmender Integration deutlich verringere. In jüngster Zeit gebe es eine leichte Stagnation, was vielleicht einerseits auf vermehrt unsichere Bleibeperspektiven zurück zu führen sei, andererseits auch mit der zweiten Phase der Integration zusammen hängen könne, also mit der Erkenntnis, dass vieles doch nicht „so rosig“ aussehe wie zunächst gedacht.

Spielerischer Perspektivwechsel
Damit Jugendliche sich jenseits der klassischen Präventionsarbeit und Intervention aktiv und kritisch mit Risiken und verschiedenen Sichtweisen des Themas „Alkohol“ auseinandersetzen können, hat die Aktion Jugendschutz (aj) der Landesarbeitsstelle Bayern das Planspiel „Die Anhörung“ entwickelt. Es kann ab 14 Jahren mit Gruppen zwischen neun und 30 Personen in Schulen, der Jugendarbeit oder der Jugendhilfe gespielt werden. „Mit diesem Perspektivwechsel wird der Prozess der politischen Meinungsbildung bei den Jugendlichen anhand eines Themas, das sie direkt betrifft, erlebbar und nachvollziehbar“, erläuterte Rupert Duerdoth, bei der aj zuständig für Suchtprävention. Das Planspiel simuliert unter professioneller Anleitung eine Anhörung im Bundestag, in der die Jugendlichen als Sachverständige begründen, warum § 9 Jugendschutzgesetz (JuSchG) verschärft, liberalisiert oder beibehalten werden soll.

Zweifel an härteren Gesetzen
Deutlich gegen eine Verschärfung des Jugendschutzgesetzes positionierte sich Sebastian Gutknecht. Der Jurist ist verantwortlich für Grundsatzfragen des Kinder- und Jugendschutzrechts bei der Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz (AJS) Landesstelle Nordrhein-Westfalen e.V. in Köln. „Wenn Minderjährige mehr oder weniger offen vorgelebt bekommen, dass Alkohol in Maßen kein Problem darstellt oder gar zum Erwachsenwerden dazugehört, dann kann dies durch eine über den jetzigen Grad hinausgehende Gesetzesverschärfung nur schwer verändert werden“, sagte er. Das Augenmerk sollte eher auf die effektive Umsetzung der bestehenden Regelungen gelenkt werden, um nicht das gelegentliche Glas Bier bei 17-Jährigen, sondern exzessives Wodkatrinken bei 14-Jährigen zu verhindern.

Auch die Leiterin der Landesstelle Jugendschutz Niedersachsen (LJS), Andrea Urban, hält weitere Verbote für wenig sinnvoll. „Damit erreichen wir bei den jungen Konsumenten nicht viel. Da das Trinken häufig etwas mit gewollter Grenzüberschreitung zu tun hat, sollten wir in der Präventionsarbeit den Blick für die eigenen Grenzen stärken“, sagte sie. „Um einen möglichst risikoarmen und kompetenten Umgang mit Alkohol zu fördern, müssen wir Jugendlichen zutrauen, dass sie ihren eigenen, ganz individuellen Umgang mit Alkohol erlernen und eine eigene Haltung zum Trinken entwickeln. Unsere Aufgabe ist es, Jugendliche dabei zu begleiten, offen auf sie zuzugehen und das Gespräch anzubieten, wenn wir den Eindruck haben, dass sie Aufmerksamkeit, Krisenhilfe oder einen vertrauensvollen Ansprechpartner brauchen“, betonte die LJS-Suchtpräventionsexpertin Dominika Lachowicz, die die Jahrestagung leitete.

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 Medienkontakt und Rückfragen:
Dominika Lachowicz
Referentin für Suchtprävention der Landesstelle Jugendschutz Niedersachsen
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