Fachtagung der Landesstelle Jugendschutz zu sexuellen Übergriffen im Internet, 18.4.2018

Fachtagung der Landesstelle Jugendschutz zu sexuellen Übergriffen im Internet

Mit mir nicht!

(Hannover, 11. April 2018) Unfreiwillige sexuelle Kontakte finden täglich in den sozialen Netzwerken, über Messenger- und Community-Apps, aber auch in den Chatforen beliebter Online-Spiele statt. Aktuelle Studien gehen davon aus, dass fast jeder fünfte Teenager in Deutschland schon einmal betroffen war. Zu den Übergriffen gehören Exhibitionismus, verbale Belästigung, die Weiterleitung von intimen Fotos, die Konfrontation mit pornografischem Material oder Cyber-Grooming – also das gezielte Ansprechen von Minderjährigen mit dem Ziel, sexuelle Kontakte anzubahnen. Internetaktivitäten zu verbieten, ist keine Lösung. Kinder und Jugendliche brauchen die aktive Unterstützung von gut informierten, gesprächsbereiten Erwachsenen. Dann können sie sich selbstbestimmt in der virtuellen Welt bewegen, ohne Schaden zu nehmen oder die Grenzen anderer zu verletzen.

Darin waren sich mehr als 90 Fachkräfte aus Jugendarbeit und Schule einig, die am Mittwoch auf Einladung der Landesstelle Jugendschutz Niedersachsen (LJS) in Hannover mit Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Praxis über zeitgemäße Präventionsstrategien diskutiert haben. Titel der Fortbildung: „Mit mir nicht!“ Nach Erfahrung von Andrea Buskotte, Referentin für Gewaltprävention der LJS und Leiterin der Fachtagung, scheuen sich Jugendliche, die von sexuellen Übergriffen betroffen sind, oft, mit jemanden darüber zu sprechen und Hilfe zu suchen, auch wenn das Geschehen sie sehr belastet. „Jugendarbeit und Schule, aber auch Eltern müssen sich diesem vielschichtigen Thema stellen, sich mit den Online-Aktivitäten Jugendlicher auskennen und zeigen, dass sie helfen können. Die Fachtagung ist ein weiterer Baustein der LJS, um wichtige Leitplanken für die Unterstützung, Begleitung und den Schutz junger Menschen einzuziehen“, betonte Buskotte am Mittwoch in Hannover.

Belästigungen sind überall im Netz möglich
Die in Mainz angesiedelte Beschwerdestelle „jugendschutz.net“ erstellt Konzepte und Handreichungen für die Praxis, damit Kinder und Jugendliche sicher im Netz unterwegs sein können. Die Internetseite www.jugendschutz.net bietet dazu zahlreiche Tipps. Referentin Sarah Dobner wies während der Fachtagung auf die wichtige Rolle hin, die Gleichaltrige bei der Sensibilisierung für Online-Risiken spielen. Daher verfolge jugendschutz.net den Ansatz der „Peer Education“. Im Zentrum steht die Vermittlung von Informationen und Kompetenzen für die kritische Reflexion von Mediennutzung. Dobner warnte vor sexuellen Belästigungen, die zum Beispiel in der globalen Video-Selbstdarstellungs-Community „musical.ly“ zu beobachten sind: In Livestreams werden explizite Fragen zu sexuellen Erfahrungen oder Aktivitäten von Zuschauern an minderjährige Streamer gerichtet.

Grenzachtende Online-Kommunikationskultur fördern
Die Medienpädagogin Dr. Verena Vogelsang plädiert dafür, Jugendliche nicht nur für mögliche Gefahren zu sensibilisieren und deren Medienkompetenz zu stärken, sondern auch eine
„grenzachtende Online-Kommunikationskultur“ zu fördern. Dann könnten junge Menschen das Web 2.0 positiv zur Entwicklung ihrer sexuellen Identität nutzen. „Die Anonymität im Netz schützt die Täter, aber sie verschafft Jugendlichen auch die Möglichkeit, im Schutz von Anonymität unverbindliche Flirtstrategien auszuprobieren“, betonte Vogelsang. Sie ist Expertin für Sexuelle Viktimisierung, Pornografie und Sexting und evaluiert Präventionsmaterialien für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Vogelsang empfiehlt neben einschlägigen Kinder- und Jugendschutz-Portalen wie „save-me-online.de“ oder „klicksafe.de“, Heranwachsende zur Reflexion ihrer Geschlechterrollen anzuregen und geschützte Erfahrungsräume zu schaffen: Darin können Rollenbilder jenseits stereotyper Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit erprobt werden.

Neue Herausforderungen für Prävention und Jugendmedienschutz
„Der sexuellen Belästigung von Kindern und Jugendlichen im digitalen Raum sind sowohl Mädchen als auch Jungen ausgesetzt“, berichtet der Kriminologe Thomas-Gabriel Rüdiger. Er lehrt und forscht am Institut für Polizeiwissenschaft der Polizei-Fachhochschule (IfP) des Landes Brandenburg zu Cyberkriminalität. Rüdiger fordert eine Reform der gesetzlichen Rahmenbedingungen, die den Schutz Minderjähriger an die digitalen Risiken anpasst und die konsequente Ahndung von Übergriffen im Netz ermöglicht. Der Cyberkriminologe beklagt einen „sehr geringen“ Wissensstand und Sensibilisierungsgrad bei sämtlichen gesellschaftlichen Akteuren. Er fordert, dass Erwachsene sich durch die Eigennutzung von Onlinespielen, Instant Messenger, Videoplattformen & Co. als Ansprechpartner qualifizieren sollten, um mit Kindern und Jugendlichen ins Gespräch zu kommen.
„Und wir müssen uns von der Vorstellung der alten Täter, die vor dem Rechner sitzen, lösen. Immer häufiger sind die Täter selbst Kinder und Jugendliche.“ Mittlerweile richte sich fast jede dritte Strafanzeige wegen Cyber-Groomings gegen ein Kind oder einen Jugendlichen. Dies stelle sowohl die Prävention als auch den Jugendmedienschutz vor ganz neue Herausforderungen. Rüdiger empfiehlt unter anderem, dem Beispiel der niederländischen Polizei zu folgen, die eine virtuelle Wache in dem beliebten Online-Spiel „Habbo Hotel“ eingerichtet hat. Dort bieten sich echte Beamte als erkennbare Polizei-Avatare für Sprechstunden an.

Zuhören und Ernstnehmen
Die Hamburger Diplom-Pädagogin und erfahrene Fachberaterin Carmen Kerger-Ladleif ist davon überzeugt, dass Mädchen und Jungen verlässliche Fachkräfte brauchen, die bereit sind, sich mit den Grundlagen digitaler Kommunikation zu befassen und deren Faszination und Risiken zu erkennen. „Hilfe für die Betroffenen digitaler Gewalt bedeutet, ernstgenommen zu werden und das eigene Leben und die Selbstbestimmtheit wiederzuerlangen“, betonte Kerger-Ladleif.


Mehr Informationen
www.jugendschutz-niedersachsen.de,
s.a. www.jugendschutz-niedersachsen.de/wir-ueber-uns/faqs/

LJS-Materialien zum Thema „sexuelle Übergriffe“
https://jugendschutz-materialien.de/shop/gewaltpraevention/grenzgebiete-sexuelle-uebergriffe-unter-jugendlichen/
https://jugendschutz-materialien.de/shop/gewaltpraevention/grenzgebiete-sexuelle-uebergriffe-unter-jugendlichen-arbeitshilfe/
https://jugendschutz-materialien.de/shop/gewaltpraevention/grenzverletzungen/

Online-Infos für Jugendliche
https://www.was-geht-zu-weit.de


» Download als PDF


Medienkontakt
Andrea Buskotte
Referentin für Gewaltprävention der Landesstelle Jugendschutz Niedersachsen (LJS)
Leisewitzstr. 26, 30175 Hannover
T: 0511 – 858788
andrea.buskotte@jugendschutz-niedersachsen.de