Geschlechtsidentität und Vielfalt
Geschlechtliche und sexuelle Vielfalt – Wen geht das etwas an?Geschlechtliche und sexuelle Vielfalt – Wen geht das etwas an?
Die Schmetterlinge im Bauch und Liebeskummer; Vorstellungen über das ‚Erste Mal‘ und Gelächter auf dem Schulhof; Flirten im Jugendzentrum und peinliche Gespräche mit Eltern und im Schulunterricht; die Fragen ‚Wer bin ich?‘, ‚Wen mag ich?‘ und ‚Was finde ich eigentlich attraktiv?‘ – all dies sind regelmäßige Themen des pädagogischen Alltags.
Nicht nur kennen wir diese aus unserer eigenen Biographie und bringen Haltung und Hintergrundwissen dazu mit – auch sind es diese Themen, mit denen neue Beziehungen und verschworene Gemeinschaften entstehen, die zu geheimem Tuscheln und offenem Streit führen, die Zurückhaltung und Aushalten oder Begegnung und Intervention von pädagogischen Fachkräften verlangen.
Sexuelle Orientierung und auch geschlechtliche Zugehörigkeit sind zentrale Dimensionen des Jugendalters. Die Beschäftigung mit diesen und mit sich selbst, mit dem eigenen Körper, der Selbstdarstellung und der Wirkung auf und von anderen ist eine Entwicklungsaufgabe: Jugendliche müssen sich sowohl im Zuge ihrer körperlichen Veränderung als auch aufgrund zahlreicher gesellschaftlicher Erwartungen mit Begehren, Körperlichkeit und dem Blick auf sich selbst auseinandersetzen.
Wenn in keinem Teenie-Magazin und keiner Webserie ein romantisches Happy End fehlen darf, ist es nicht verwunderlich, dass sich Jugendliche auf teilweise unerreichbare Ideale stützen oder sich erstmal ganz zurückziehen und ihnen so die Erfahrungen von Ausprobieren, Scheitern und Erfolg verwehrt bleiben.
Sexuelle Orientierung und geschlechtliche Zugehörigkeit sind so für alle Jugendlichen ein Gegenstand wichtiger Auseinandersetzungen.
Eine zusätzliche Herausforderung erleben dabei lesbische, schwule, bisexuelle, trans* und queere (LGBTQ*) Jugendliche: Wenn sie sich mit Sexualität und Geschlecht beschäftigen – wie alle anderen Jugendlichen auch – geschieht dies zum Teil bereits im frühen (Kindes)Alter und oftmals unter dem Eindruck der eigenen Besonderheit, der Abweichung oder gar der Abwertung. Eine Alternative und Entlastung bieten ihnen im Jugendalter teilweise spezifische soziale Kontexte wie Online-Communities, queere Jugendgruppen oder Sub-Szenen von Partys und Bars bis Mangas und Computerspielen.
Das Gefühl ‚anders‘ zu sein – Was ist die Lebenssituation LGBTQ* Jugendlicher?
Die Lebenswelt von LGBTQ* Jugendlichen ist kompliziert: Zahlreiche widersprüchliche Informationen und Erfahrungen vermischen sich und sind nur schwer voneinander zu trennen.
So beobachten viele Jugendlichen rechtliche Prozesse um die Öffnung der Ehe für schwule und lesbische Paare ebenso wie die weiter bestehenden Zwangstherapien und unangenehmen Alltagstests für trans* Personen, die eine geschlechtlich eindeutige Gestaltung unter anderem von Schulbesuch und Familienalltag verlangen, ohne diesen durch medizinische Maßnahmen zu unterstützen. Sie freuen sich über die viralen Coming-outs des schwulen Sängers Troye Sivan und der trans* Make-Up-Youtuberin Nikkie de Jager. Gleichzeitig merken sie, wie weit derartige Darstellungen wie auch queere Prominente von ihnen und ihrem Alltag entfernt sind. Jenseits medialer, häufig klischeehafter Darstellungen fehlt es für sie oft an nahbaren Vorbildern aus ihrem Alltag.
In ihrer (Selbst-)Erkundung übernehmen Jugendliche oft zahlreiche subtile oder offen ausgestellte, für die jeweilige Person selbst aber hochgradig relevante, Codes: Abkürzungen wie LGBTQ*, Regenbogenanhänger und die Beschreibung als ‚asexuell, panromantisch und nicht-binär‘ wirken dabei für Außenstehende unverständlich, wie eine Geheimsprache und eine Abgrenzungsstrategie. Nicht selten erwachsen daraus aber spannende Gespräche, in denen sich gewünschte Anreden ebenso austauschen lassen, wie ein Einblick in die subjektive Lebenswelt möglich wird. Nachfragen zu vermeintlich Bekanntem wie Unbekanntem zu stellen, ist so auch in Bezug auf geschlechtliche und sexuelle Vielfalt eine passende pädagogische Praxis.
Prägend für ihre Lebensführung ist der Unterschied von Normalität und Akzeptanz.
Wenn sich LSBTQ* Jugendliche auch weitgehend gesellschaftlich akzeptiert fühlen, erleben sie ihre sexuelle Orientierung und geschlechtliche Zugehörigkeit doch immer wieder als Besonderheit: als etwas das von ihnen extra benannt und hervorgehoben werden muss, weil es nicht selbstverständlich und im Gespräch mit Freund*innen, in der Schule oder im Jugendzentrum sonst nicht vorhanden ist; als etwas das auch von ihrem Umfeld als Auskunft und Verortung eingefordert wird.
Dem Wunsch nach einer mit der Heterosexualität und Cis-Geschlechtlichkeit vergleichbaren Selbstverständlichkeit, Unauffälligkeit und Allgegenwärtigkeit – in Spielfilmen, Plakatwerbung und Alltagsgesprächen – wird in der Realität (bisher) nicht entsprochen.
Gleichzeitig machen die Jugendlichen manifeste Diskriminierungserfahrungen. In der Studie ‚Coming-out – und dann…?!‘ des Deutschen Jugendinstituts gaben jeweils 40-45% der befragten rund 5000 Jugendlichen an, in den Kontexten engere Familie, Schule/Ausbildung/Universität/Arbeitsplatz und dem Freundeskreis verschiedene Formen der Abwertung zu erleben: Werden in der Familie Geschlecht und Sexualität der Jugendlichen häufig nicht ernst genommen oder ignoriert und findet im Freundeskreis eine Überbetonung statt, sind Bildungs- und Arbeitszusammenhänge oft Orte verbaler oder körperlicher Abwertungen und Drohungen. Wenn sich die jungen Menschen bei Problemen nicht ohne (langfristige) negative Konsequenzen aus ihrer Familie oder der Schule zurückziehen können, sind Schwierigkeiten oder fehlende Unterstützung in diesen Kontexten besonders belastend.
Innerhalb dieser sehr unterschiedlichen Erfahrungen bleiben die Jugendlichen in einer ständigen Anspannung: Sie erwarten jederzeit eine mögliche Abwertung und befürchten – auch trotz vorheriger positiver Erlebnisse – eine Ausgrenzung und Zurückweisung.
Trotzdem ist ihnen eine Thematisierung größtenteils sehr wichtig: teilweise um auf andere Weise als bisher leben zu können und gesehen zu werden, teilweise auch, weil sie dazu genötigt werden. Sich unter diesen Umständen selbst zu verorten und zu erklären, ist anstrengend, hochgradig emotional und eine prekäre Situation.
Aus dem durch ihre Umwelt vermittelten Gefühl ‚anders‘ zu sein, Abwertungserfahrungen und fehlenden Bildungs- und Unterstützungs-Ressourcen ergeben sich dann unter anderem Belastungen der psychischen Gesundheit, des Selbstwerterlebens wie auch sexuelles Risikoverhalten und ein erhöhtes Suizidrisiko.
Unerkannt und unsichtbar oder stolz und streitlustig – Sind queere Jugendliche in meiner Einrichtung?
Junge lesbische, schwule, bisexuelle, trans* und queere Menschen sind dauerhaft mit der Aufgabe beschäftigt, die Sichtbarkeit ihrer geschlechtlichen Zugehörigkeit und sexuellen Orientierung auszuhandeln.
In jedem neuen sozialen Kontext setzen sie sich damit auseinander, ob, wann und wie sie sich selbst zeigen und inszenieren wollen. Wenig verwunderlich ist deshalb, dass zwischen der eigenen Bewusstwerdung, dem sogenannten inneren Coming-out, und der ersten Mitteilung an Freund*innen, Eltern oder andere Vertraute oftmals Jahre vergehen.
‚Mittleres Alter von innerem und äußerem Coming-out; ohne die Antworten „kann ich nicht so genau sagen“ und „wusste ich schon immer“; die Teilgruppen ‚orientierungs-divers‘ und ‚gender-divers‘ sind eine Zusammenfassung verschiedener Freitextangaben wie ‚pansexuell‘, ‚agender‘ oder ‚es ist kompliziert‘; Quelle: Deutsches Jugendinstitut
Jugendliche werden sich so die Studie ‚Coming-out – und dann…?!‘ im Mittel zwischen 13 und 17 Jahre über ihre Sexualität bewusst – bis auf 10-25 % der Befragten je nach Teilgruppen, die angaben, dies schon immer gewusst zu haben. Das sogenannte äußere Coming-Out findet jedoch erst im Alter von 17 bis 19 Jahren statt.
Im Kern des Jugendalters sind den Jugendlichen geschlechtliche Zugehörigkeit und sexuelle Orientierung durchaus bewusst, sie zeigen sich jedoch erst bedeutend später auf diese Weise.
Wenn ein Viertel der Befragten angibt, in den letzten 12 Monaten ein Jugendzentrum oder eine Jugendgruppe ohne spezifischen LGBTQ*-Bezug besucht zu haben, finden sich lesbische, schwule, bisexuelle, trans* und queere Jugendliche somit in der Schule, im Haus der Jugend, in Sport- und Musikvereinen, bei den Pfadfindern, der freiwilligen Feuerwehr und den kirchlichen Jugendangeboten – auch wenn sie sich dort (zunächst) nicht ‚outen‘.
Für ein (äußeres) Coming-out greifen die Jugendlichen dann auf unterschiedliche Zeitpunkte und Strategien zurück. Gerade der Wechsel von Bildungs-, Ausbildungs- oder pädagogischen Umfeld wird von ihnen als Chance wahrgenommen, sich umfassend anders vorzustellen, neue Flirts zu wagen und sich für sie passende Pronomen anzueignen.
Ihre Selbstinszenierung ist dabei individuell sehr unterschiedlich: oftmals werden Beziehungswünsche oder Transitionsabsichten erst im kleinen Freundeskreis geteilt und später offensiv und mit Stolz – teilweise verständlicherweise als vorweggenommene Verteidigung – ausgestellt. LGBTQ* Jugendliche sind so auf verschiedene Weise in pädagogischen Einrichtungen (un)sichtbar – aber immer anwesend.
Aufklärung, Ansprache, Unterstützung… Was brauchen Jugendliche von pädagogischen Fachkräften?
Eine pädagogische Arbeit zu sexueller Vielfalt und geschlechtlicher Zugehörigkeit visiert vor diesem Hintergrund mehrere Ziele an.
So kann diese zum einen den Raum eröffnen, in dem sich LGBTQ* Jugendliche wohlfühlen, sich entwickeln und selbstbestimmt ausdrücken können. Wann und wie ein Coming-out passiert kann darin Gegenstand von Beratung und Austausch auch mit pädagogischen Fachkräften sein. Letztendlich muss dies von den Jugendlichen entschieden und getragen werden.
Zum anderen visiert diese Arbeit alle Jugendlichen an, eröffnet ihnen eine Auseinandersetzung und Entwicklung ihrer selbst. Der Abbau von diskriminierenden Vorurteilen und Werthaltungen bildet dabei nur einen kleineren Teilaspekt. Im Vordergrund steht, dass alle Jugendlichen sich mit Geschlecht und Sexualität beschäftigen und auch heterosexuelle, cisgeschlechtliche Jugendliche an einer Thematisierung verschiedener Perspektiven interessiert sind und daran wachsen.
Diese Fragen können helfen, sich deutlich zu machen, wie in der eigenen Einrichtung mit dem Thema sexuelle Vielfalt umgegangen wird und an welchen Stellen ggf. nachjustiert werden könnte.
- Die Einrichtung rahmen – Gibt es Bücher und Filme zu Sexualität und Geschlecht und zeigen wir lesbische, schwule, bisexuelle, trans* und queere Perspektiven selbstverständlich auf Filmabenden? Gibt es Poster und ein Selbstverständnis, die LSBTQ* Menschen und Themen willkommen heißen und öffentlich zeigen? Unterstützen wir Selbstorganisation und schaffen wir Raum für Angebote explizit zum Thema Geschlecht und Sexualität oder eine queere Jugendgruppe?
- Aktiv werden – Setzen wir uns als Team professionell mit Begriffen wie Coming-out, Transsexualität und bisexuell auseinander und nehmen Fortbildungsangebote in diesem Bereich wahr? Schreiten wir bei Diskriminierung ein und signalisieren Unterstützung und Offenheit? Denken wir gemeinsam mit interessierten Jugendlichen darüber nach, wie sich Geschlechtertrennung in Gruppeneinteilungen, Übernachtungen und Toiletten für alle passend organisieren lässt? Laden wir Aufklärungs- und Bildungsinitiativen für einen Austausch zu Geschlecht, Sex und Sexualität in die Einrichtung ein?
- Ansprechbar sein – Wissen wir, welches die nächsten Beratungsstellen zu Geschlecht, Sex und Sexualität sind – reagieren aber auch nicht direkt mit einem Beratungshinweis oder Problematisierung, wenn Jugendliche mit diesen Themen auf uns zukommen? Fragen wir nach, warum sie uns Dinge erzählen, was sie meinen, wie es ihnen geht und was sie brauchen? Sind wir parteilich, professionell und unterstützend?
Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt ist immer auch ein persönliches Thema, zu dem Freund*innen, Eltern, Vertraute und auch Fachkräfte ihre Einstellungen und Erfahrungen mitbringen: Gespräche können vor diesem Hintergrund unangenehm oder spannend, Situationen mit Jugendlichen bereichernd oder überfordernd sein.
Unterstützung kann hier nicht nur eine nachträgliche Reflexion im professionellen Kontext bieten, sondern auch eine anlasslose Besprechung im Vorfeld: Der Austausch, darüber, wer sich mit welchen Anliegen und in welchen Situationen wohl und gewachsen fühlt, schafft Verweisungskompetenz – innerhalb eines Teams oder auf weitere Angebote. Hier finden Sie dazu einige Anlaufstellen in Niedersachsen.