Dr. Silja Matthiesen, Gunter Schmid „Internetpornographie. Jugendsexualität zwischen Fakten und Fiktionen“

Kurzinformation zum Text
Die Autoren untersuchen auf der Basis aktueller Studien den Umgang von Jugendlichen mit pornografischen Angeboten. Ihr Fokus liegt dabei auf der Unterscheidung zwischen Mythen und belegbaren Erkenntnissen. Beruhend auf einer von Dr. Silja Matthiesen betreuten Studie, die 2009 unter 160 Jugendlichen durchgeführt wurde, entwickeln die Forscher Thesen zum Umgang von Jugendlichen mit Pornografie im Internet.

Der einfache Zugang zur Pornografie im Internet bedeutet eine „tiefgreifende Veränderung der sexuellen Umwelt“ – die insbesondere für Jungen eine Rolle spielt: Ungefähr ein Drittel der 16- bis 19-jährigen jungen Männer konsumiert mindestens einmal die Woche pornografische Clips oder Streams im Netz. Mädchen stoßen eher zufällig auf pornografische Inhalte im Netz und bleiben hier auch nur kurz hängen. Angesichts der Unterschiede plädieren Matthiesen/Schmid für eine genaue Untersuchung der Auswirkungen des Pornografiekonsums und des Umgangs mit dem Gesehenen – und widersprechen damit Einschätzungen, die hier pauschal ein „unerwünschtes Risikoverhalten“ diagnostizieren.
Jungen sehen Pornos überwiegend allein oder mit Gleichaltrigen. Beim Pornokonsum mit Freunden zählt der „Spaßfaktor“. In diesem Zusammenhang beschreiben die Autoren die gemeinsame Belustigung über bizarre Bilder und Praktiken auch als „moderne Form der Mutprobe“. Die meisten Jungen sehen sich jedoch allein kurze Clips an, die sie zur sexuellen Erregung und Masturbation nutzen. In diesem Zusammenhang konstatieren die Autoren, der solitäre Gebrauch der Pornografie sei für adoleszente Jungen „…so alltäglich, normal und selbstverständlich wie die Masturbation.“ (S.5)

Sexuelle Bedürfnisse werden in der Kindheit und Vorpubertät formiert. Hier verweisen die Autoren auf einen Begriff des Psychologen John Moneys, „Lovemaps“. In diesen „Liebeslandkarten“ sind die individuellen Liebes- oder Sexualentwürfe bereits angelegt, bevor es zu konkreten ersten sexuellen Handlungen kommt. Aus diesen Überlegungen leiten die Autoren zwei zentrale Thesen ab:

  1. Jugendliche, die sich Pornografie ansehen, sind bereits durch Kindheit und Vorpubertät geprägt, die Skripte der Pornografie treffen auf eine „schon vorhandene Struktur des Begehrens“, die laufend fortgeschrieben wird.
  2. Somit interessieren sich Teenager für Inhalte, die der eigenen „Lovemap“ entsprechen – und können der Welt der Pornografie durchaus „wählerisch gegenübertreten“ (S.7).

Wie die Ergebnisse der Studie zeigen, meiden die meisten Jungen Inhalte, die ungewöhnliche Praktiken enthalten, weil sie für die Erregung nicht effektiv sind. Die Annahme einer sukzessiven Steigerung der Reize beim Pornografiekonsum verweisen Matthiesen/Schmid dementsprechend ins Reich der Fiktion, sie sei ein „Phantasma der Erwachsenen“ (S.7). Als Folge von Pornografiekonsum gelten „interaktionelle Skripte“ für eigene sexuelle Handlungen – sowohl bei Mädchen als auch bei Jungen. Bedingt durch eine Vielzahl von Medienangeboten zum Thema Liebe und Sexualität sind heutige Jugendliche sexuell „overscripted“ – lange, bevor sie in den ersten Porno gesehen haben.
Schließlich widmen sich die Autoren der kulturhistorisch entwickelten und belegten Fähigkeit von Menschen, erzählte und reale Welten zu unterscheiden. Auch die im Rahmen ihrer Studie (s.o.) befragten Jugendlichen unterscheiden klar zwischen pornografischen Darstellungen und eigenen Erlebnissen.

Kontakt und Rückfragen:
Matthiesen, Silja, Dr. phil., Forschungsleiterin am Institut für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf.
smatthie@uke.uni-hamburg.de

Schmidt, Gunter, Prof. Dr. phil., Sexualwissenschaftler und Psychotherapeut, Hamburg. Arbeitsschwerpunkte: Sozialer Wandel der Sexualität, Jugendsexualität.

Download:
Dr. Matthiesen, Silja – Vortrag Jugendsexualität zwischen Fakten und Fiktion

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